von
BETTINA KREMBERG
Willensfreiheit ist ein Thema, von dem E. du Bois-Reymond einmal
geschrieben hat, dass es ein Rätsel und damit ein genuin
philosophisches Problem darstelle, von dem er allerdings nicht
wisse, ob es überhaupt lösbar sei. Geert Keil hingegen hält das
Problem der Willensfreiheit durchaus für lösbar und stellt sich ihm.
In seinem titelgebenden Buch versucht er zunächst den Begriff der
Willensfreiheit von anderen Freiheitsbegriffen abzugrenzen. Am
kontrastreichsten ist die Unterscheidung innerhalb der Philosophie
zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit.
Handlungsfreiheit besitzt man, wenn man nicht durch äußere Zwänge
daran gehindert wird, seine Absichten in die Tat umzusetzen.
Willensfreiheit aber ist etwas anderes, wie Keil schreibt, denn die
Fähigkeit, frei seinen Willen zu bilden, frei zu wählen oder frei zu
entscheiden, schließt nicht unbedingt die Möglichkeit ein, das
Gewählt auch zu tun. Während also die Handlungsfreiheit durch die
jeweiligen tatsächlichen Optionen begrenzt ist, scheint dies für die
Willensfreiheit nicht zu gelten. Wenn Handlungsfreiheit die Freiheit
ist, zu tun, was man will, könnte Willensfreiheit analog die
Freiheit sein, zu wollen, was man will. Das heißt, Willensfreiheit
zu besitzen, müsste dann die Fähigkeit einschließen, etwas anderes
zu wollen, als man tatsächlich will. Doch ist das einleuchtend?
Keil fasst das Problem der Willensfreiheit als genuin
philosophisches Problem auf. Er vermutet, dass das Problem
der Willensfreiheit ein Phänomen ist, das lebenspraktisch immer
schon derart in Anspruch genommen und damit selbstverständlich ist,
dass es als Denkgegenstand vielleicht gar nicht erst ins Blickfeld
gerät. Deshalb versucht er dem Problem der Willensfreiheit näher zu
kommen, indem er es als Problem der eingeschränkten
Fähigkeit zur Willensbildung auffasst. Denn obwohl
Willensfreiheit weder durch äußeren Zwang oder physische Gewalt
eingeschränkt ist, gibt es zahlreiche Hindernisse, die die
Willensfreiheit von Menschen beschränken. Zu diesen Hindernissen
zählt an erster Stelle der Determinismus als Kontrastbegriff zum
Begriff der Freiheit. Doch die bisherige Determinismusdebatte hält
Keil für ‚nonchalante’. Keil empfiehlt deshalb, erst einmal den Sinn
der Determinismusthese naturphilosophisch, physikalisch und
metaphysisch zu klären und deren Konsequenzen für das
Freiheitsproblem zu erörtern. Dies tut er dann auch, indem er
Stellung zu alten, neueren und neuesten Debatten zum Thema nimmt,
bis er schließlich selbst seinen eigenen Ansatz zur Willensfreiheit
im fünften Kapitel seines Buches vorstellt.
In seiner so genannten ‚Skizze eines fähigkeitsbasierten
Libertarismus’ schlägt Keil gegenüber dem Kantischen und dem
Aristotelischen Weg eine dritte Lösung vor. Diese besteht aus
insgesamt acht Komponenten. Nach Kant ist die Handlung im Augenblick
des Geschehens in der Gewalt des Subjekts. Nach Aristoteles hat die
zurechenbare freie Entscheidung in manchen Fällen zu einem früheren
Zeitpunkt stattgefunden. Das deutsche Strafrecht geht den kantischen
Weg, denn es legt das Prinzip der Einzeltatschuld zugrunde.
Konkurrierende Lehren von der ‚Charakterschuld’, der
‚Lebensführungsschuld’ oder der ‚Lebensentscheidungsschuld’ – wie
sie noch in der Antike maßgebend waren – haben sich nicht
durchsetzen können. Dass sich Handlungen allerdings sauber in zwei
Teilklassen untergliedern lassen: hier die psychologisch streng
determinierte und dort die frei wählbare Seite, erscheint nicht nur
Keil unplausibel, weshalb er seinen dritten Weg vorschlägt.
Keils Ansatz geht zunächst davon aus, dass ein So-
oder-Anderskönnen eine Fähigkeit ist, die man nicht dadurch
verlieren kann, dass man sie gerade nicht ausübt. Das heißt, auch
unüberlegte Handlungen bleiben überlegungszugänglich. Die
Möglichkeit, komplexe Fähigkeiten des Weiterüberlegens und
Suspendierens bestehender Motive zu aktualisieren, besteht daher
grundsätzlich bei jeder Handlung, wobei es oft gar nicht nötig ist,
diese Fähigkeiten zu aktualisieren. Die Fähigkeit
gegebenenfalls zu aktualisieren ist dabei eine entweder
vernünftige oder moralische Forderung an den Akteur, dem es damit
schwer gemacht werden soll, sich durch vorgebliches Nichtwissen aus
der Verantwortung zu stehlen. Einschätzungen, ob es im Einzelfall
rational oder moralisch geboten sei, Überlegensfähigkeiten zu
aktualisieren, obliege dem Handelnden. Dieser muss moralisch
riskante Situationen erkennen können, um seine Handlungen
entsprechend umstellen zu können. Um einzuschätzen, wann der
Zeitpunkt gekommen ist, wo es unvernünftig wird, endlos
weiterzuüberlegen, bedarf es aber des höherstufigen Vermögens
der Urteilskraft. Für dieses höherstufige Vermögen ist wiederum
Selbsterziehung erforderlich. Dabei ist es nicht immer nötig,
Überlegungsfähigkeiten in Form von Gründen anzuführen, da es für
Keil nicht immer irrational ist, ohne wohlerwogenen Grund zu
handeln, da Gewohnheiten oft eingeübte und routinierte Gründe
bereitstellen.
An Keils handlungs- und kausalitätstheoretischen Kritik wird
überdies deutlich, dass das Ausführen oder Vollziehen einer Handlung
nicht in der Terminologie des Verursachens beschrieben werden
sollte, da im Allgemeinen Handlungen und nicht Kausalitätsreihen
begonnen werden. Letztlich zeige sich nach Keil Willensfreiheit im
vernünftigen Umgang mit vorfindlichen Kontingenzen, wobei die
eigenen Neigungen eingeschlossen sind, da kein Mensch eine
tabula rasa sei. Entscheidend sei also nicht, ob Wünsche
oder Antriebe selbst gewählt worden sind, sondern dass sie sich
nicht naturnotwendig oder gleichsam automatisch in Verhalten
umsetzen lassen. Das So- oder-Anderskönnen wird von Keil also nicht
als ein besonderes Zusatzvermögen, das eine tiefere Art von Freiheit
darstellt oder eine eigene Art von Kausalität erfordert, begriffen,
sondern als ein Implikat der gewöhnlichen Begriffe des Überlegens,
Entscheidens und Handelns. Für ihn heißt, etwas tun können,
immer schon so-oder-anderskönnen. Ein Determinismus muss
also letztlich abgelehnt werden. Wenn nämlich der Weltlauf durch
Naturgesetzte alternativlos fixiert wäre, gäbe es keine offenen
Möglichkeiten, die man erwägen und ergreifen könnte. Das würde aber
der alltäglichen Praxis widersprechen.
Besonders hervorzuheben ist an Keils Buch zur Willensfreiheit die
große Mühe, die sich der Autor macht, um die verschiedenen
Fehlschlüsse, Missverständnisse und Begriffsverwirrungen zu
entknäulen. Überdies scheut sich Keil nicht, auch empirische Befunde
aus der Hirnforschung heranzuziehen. Keil leitet aus seiner Analyse
ab, dass die menschlichen Alltagsbegriffe des Überlegens,
Entscheidens und Handelns im Grunde ‚libertarisch’ sind und die
vollmundigen Behauptungen einer empirischen Widerlegung der
Willensfreiheit von Seiten der Hirnforscher nicht gedeckt ist. –
Freilich sind das Gebiete, in denen der Philosoph Laie bleibt. Eines
muss jedoch fachmännisch konstatiert werden: Keil hat das Thema der
Willensfreiheit wieder in verantwortliche philosophische Hände
genommen und den Respekt vor den philosophischen Schwierigkeiten des
Themas, der in den letzten Jahren durch empirische Forschung in
Mesalliance mit flacher Presse verspielt wurde, ein wenig mehr
wieder hergestellt. Danke dafür.
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