von
BETTINA KREMBERG
Die zentrale Frage des Buches über Geburtshilfe zwischen
Hebammenkunst und medizinischer Wissenschaft ist, warum sich – sogar
im Bereich des Geburtlichen als genuin weiblichem Bereich – das
theoretische Wissen weniger akademischer Männer über das lang
erfolgreich tradierte weibliche Erfahrungswissen erheben konnte. Am
Beispiel der Regensburger Gebäranstalt am Sinngrün analysiert
Stadlober-Degwerth im mikrohistorischen Vergleich mit der
beruflichen Stellung der Stadthebammen, die lange Zeit eigenständig
private Kindbettstuben führten, das Verhältnis von öffentlichen und
privaten Gebärorten und deren arbeitsweltliche Umfelder und soziale
Konsequenzen. Am Herzen liegen der Autorin dabei vor allem die
Macht- und Herrschaftsstrukturen sowohl auf der städtischen
Verwaltungsebene als auch in puncto Wissenstransfer
innerhalb der medizinischen Berufsgruppen.
Das Buch von Marion Stadlober-Degwerth ist ein Buch, das mit
seiner Themenstellung einmal mehr die Verobjektivierung des
weiblichen Körpers bearbeitet und in ihren Auswirkungen bis in die
heutige Zeit zeigt. Es gibt damit aus regionalgeschichtlicher und
mikroethnologischer Sicht Material für die Untermauerung
ethisch-philosophischer und politischer Debatten wie sie nicht erst
seit den letzten beiden Jahrzehnten im Anschluss an die
feministischen und Frauenforschungsdebatten geführt werden. Das tut
Not. Das tut gut – angesichts des tendenziellen Abwanderns dieser
Debatte in wissenschaftliche Spezialdiskurse ohne Anschlussfähigkeit
an lebensweltliche Erfahrungen einerseits und einer allgemein
beobachtbaren Gelähmtheit und dem Rückfall in konservative
Lebensanschauungen andererseits.
Eindringlich, aber zugleich mit sachlicher Festigkeit
argumentiert dahingegen die Autorin des Buches offen gegen eine
‚Verwaltung des weiblichen Körpers’ z.B. durch ungewollte
Medikalisierung von schwangeren Frauen und gegen eine
‚Inventarisierung des Menschen’ überhaupt. Diese aber war nirgendwo
leichter durchführbar als in den Gebäranstalten des 18. und 19.
Jahrhunderts. Dort nämlich bekamen vor allem die unteren Schichten
der Bevölkerung ihre Kinder, wenn sie nicht vor, während oder kurz
nach der Geburt an schlechter Versorgung oder mangelnder Hygiene
bereits starben. Eine Hygienisierung der Geburtsanstalten stand
nämlich noch lange aus. Aus dieser hohen Mortalitätsrate in den
frühen Gebäranstalten legitimierte sich jedoch als willkommene
Gelegenheit des medizinischen Forscherdranges eine umfangreiche
Anfertigung und Sammlung von Präparaten für Schau- und
Lehrsammlungen unter dem Deckmantel der Wissenschaft, so die
Autorin. Den geschichtlichen Rahmen bildet also der akademische
Aufstieg der Bader, Wundärzte und Chirurgen in Europa, mit der die
Geburtshilfe zur ‚höheren Entbindungskunst’ aus der weiblichen
Arbeitswelt herausgelöst und dem männlich dominierten medizinischen
Fächerkanon einverleibt wurde.
Doch nicht so sehr die schlimmen medizinischen Umstände oder ihre
Ausnutzung für Forschungszwecke an sich, sondern vielmehr die
arbeitsweltlichen und Berufsprofile bildenden Hintergründe vor allem
vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein
bilden den Fokus der Untersuchung. An den Veränderungen der
Arbeitswelt lassen sich nämlich die strukturellen Hintergründe für
die sich differenzierende Entwicklung der unterschiedlichen
Berufsprofilierung aufzeigen. Während die Männer vor allem auch
aufgrund ihrer neuen technischen Gerätschaften, die sie erfanden und
einsetzten, ihres akademischen Grades und eines professionalisierten
Habitus einen neuen Berufsstand, den Hebarzt, mit entsprechender
Besoldung gründeten, verlor die Hebamme – im Vergleich zu diesen –
im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung und Ansehen, was sich im
übrigen auch finanziell ausdrückte. In diesem Prozess der
Veränderung, das heißt Spaltung von Arbeitswelten ging das weibliche
Praxis-Wissen, da es nicht, wie das der Theoretiker, schriftlich
fixiert wurde, zunehmend verlustig, weil es mündlich von der
‚Lehrfrau’ an die ‚Lehrtochter’ übertragen wurde. Und von letzteren
gab es im Zuge der neuen Anstalten zunehmend weniger.
Ein weiteres Verdienst der Untersuchung über die veränderten
Gebärpraxen und ihre Professionalisierung - neben der kritischen
Sichtweise auf die männlich dominierte und noch immer dominierende
Berufswelt - ist es, dass sich die Autorin verpflichtet fühlt, auf
diese Weise den Stummen in der Geschichte zur Sprache zu verhelfen.
Diesem Anliegen werden auch die Methoden gerecht. Stadlober-Degwerth
stützt sich z.B. methodisch vor allem auf Clifford Geertz’ Theorie
der dichten Beschreibung, Michel Foucaults Beschreibungen der
Verdrängung heilkundlicher Praktiken und des
Medikalisierungsprozesses und Carlo Ginzburgs mikrogeschichtlichem
Paradigma. Einbezogen werden auch neueste Ansätze zum
Professionalisierungsdiskurs und zur historischen Theorie der
Berufe, d.h. z.B. solche Theoreme wie ‚professioneller Habitus’,
‚akademische Freiheit’, ‚ehrenhaftes Verhalten’ und solche
pejorativen Begriffe wie ‚Halbwissende’, ‚Subprofessionelle’ usw.
zur Kennzeichnung und Abwertung des praktischen Wissens. Auch die
Nutzung der Quellen ist wohl durchdacht, soll es doch eine
Reminiszenz an die einfachen Menschen der Vergangenheit sein, die
für ein breiteres Publikum als das nur akademische diese Leute
wieder ans Licht holt und zu Würden kommen lässt. Die Studie nutzt
deshalb umfangreiche Quellen: Regierungs-, Polizei- und
Bauordnungsamtsakten, Familienbögen, Kirchenregister und
medizinische Akten. Diese jedoch sind geschmeidig in den Textfluss
eingebaut oder als Graphik aufbereitet, so dass das gesamte Buch
sehr lesefreundlich daherkommt.
Neben dem Erwerb eines umfangreichen Wissens, das in diesem Buch
eingefangen und gut aufbereitet ist, gibt es für den Leser einen
weiteren wichtigen Grund, dieses Buch ausgerechnet jetzt zu lesen:
Denn in der Nachzeichnung der individuellen Strategien und
Motivationen des politischen Engagements, des Protestes und des
Widerstandes der beiden Berufsgruppen ist es unkompliziert möglich,
Analogien zu Erfahrungen innerhalb des eigenen Berufslebens zu
ziehen und aus den individuellen Strategien der historischen Akteure
auch noch heute zu lernen. Ähnliche arbeitsweltliche
Differenzierungsstrategien fanden und finden noch immer z.B. im
Bereich der Psychologie statt, wo enorme Gelder in
neurophysiologische Apparaturen oder pharmazeutische Forschung und
(männliches) Personal gesteckt werden, wohingegen im Vergleich mit
diesen z.B. die gesprächs- und erfahrungsorientierte Psychologie und
Psychotherapie als vermeintlich ‚weibliche’ Verstehens- und
Erziehungskompetenz zunehmend gesellschaftlich und ökonomisch
marginalisiert wird.
Ein ins Praktische zu wendendes Wissen tut also gut und Not
angesichts weit verbreiteter oft bloß formeller
Gleichstellungspraktiken in der gegenwärtigen Wissenschaft und
Gesellschaft. Wenngleich also im Buch das gescheiterte Engagement
der Hebammen gegenüber den Hebärzten beschrieben wird, so sollte
dies doch Motivation geben, die angewendeten Macht- und
Herrschaftsstrategien der Männer noch tiefer zu durchdringen, um
Gegenstrategien zu entwickeln, die ihnen im gegenwärtigen
Berufsleben hin und wieder zumindest einen Riegel vorschieben, denn
technisches Know-how ohne entsprechende soziale Kompetenz macht das
menschliche Leben auf Dauer weder besser noch sinnvoller.
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